Nur Krisen und Hunger?

Doch auch ohne dass Journalisten diese Rolle als „Anwälte“ übernehmen, scheint es selbstverständlich zu sein, dass uns vor allem Themen wie Naturkatastrophen oder bewaffnete Konflikte aus den „Entwicklungsländern“ erreichen. Wie kommt das? Die journalistische Arbeit dort bringt auch Meldungen und Berichte hervor, die keine Hungersnöte, Dürren, Flüchtlingsdramen oder Kriege zum Thema haben. Genauso widmen sich beispielsweise Reportagen oft positiven Ereignissen oder auch mal ganz normalen und alltäglichen Dingen.

Auch beim täglichen Medienkonsum trifft man kaum auf solche Berichte. Denn für die verantwortlichen Redakteure muss die Auslandsberichterstattung aus den „Entwicklungsländern“ meistens eine Dauerkrisenberichterstattung sein. In deutschen Tageszeitungen gibt es häufig eine Rubrik, in der aus dem Ausland, oft sogar aus den medial weniger abgedeckten Regionen, ausführlicher und mit mehr Hintergründen berichtet werden kann. Diese „Seite Drei“-Rubrik ist eines der wenigen Bespiele für einen Raum, in dem das Schema der „Dauerkrise in den Entwicklungsländern“ aufgebrochen werden kann. Oft bieten auch Radiosender Features an, die sich näher und kritischer mit Themen aus „Entwicklungsländern“ beschäftigen. Diese Formate bieten also die Chance, Berichte abseits der allgemeinen Agenda, abseits der typischen Nachrichtenproduktion unterzubringen. Doch auch hier gilt, was ein Pressejournalist in Südostasien sagte, als er gefragt wurde, wie er den Lesern auf „Seite Drei“ das Land Laos näher bringt:

„Ich gebe nur einen Einblick in das Land. Der kann unvollständig sein, der darf nur nicht falsch sein.“

Der größere Raum für eine Meldung bietet mehr Platz für Hintergrundinformationen, wird jedoch ein Land, eine Region, kulturelle Bräuche oder einen Konflikt nie ganz erklären können. Es ist wichtig zu begreifen, dass es sich immer nur um unvollständige Einblicke in eine andere Welt handelt.

 

Kann man bei manchen Formaten noch von „guten Einblicken“ in das Thema sprechen, sieht der Großteil medialer Berichterstattung anders aus: einseitige Programmatik, eine gewisse Oberflächlichkeit und Unvollständigkeit. Das kennzeichnet die sogenannte mediale Lücke und wirft kein besonders gutes Licht auf die Massenmedien, die den Auftrag haben, uns mit relevanten Informationen und interessanten Berichten aus aller Welt zu versorgen.

Wie kommt es immer wieder zu dieser Lücke? Will das Publikum in Deutschland die Dauerkrise oder den Einheitsbrei in den Medien? Es stellt sich die Frage, ob wirklich das Desinteresse der deutschen Zuschauer, Leser und Zuhörer dazu führt, dass wir nicht umfassend informiert werden. Oder halten es die deutschen Medienbetriebe einfach nicht für sinnvoll, uns überhaupt Nachrichten zu liefern, die aus dem Schema der Krisenberichtserstattung ausbrechen, aus Angst, die Quote würde sinken? Vielleicht wirken ja Nachrichten ohne Hunger in Afrika, Terror in Pakistan oder Überschwemmungen in Bangladesch wirklich nicht auf das Publikum. Berichte, die besonders interessieren und faszinieren, vielleicht sogar schockieren, nennt man „publikumswirksam“. Und die Dauerkrise scheint zu wirken.

Die Grundregeln

Ein Pressejournalist, der in Südostasien arbeitet, sagte zu den Auswahlkriterien der Themen bei einem Interview Folgendes:

„Malaysia krieg ich normalerweise nicht ins Blatt. Und ich krieg auch in den seltensten Fällen über die Philippinen was ins Blatt, es sei denn George Bush fliegt da grad mal hin. [...] Afghanistan ist meistens gefragt. Nordkorea ist meistens gefragt, wenn da was passiert – und es passiert in der letzten Zeit ständig was. Pakistan, Indien kriege ich unter und dann eben, wenn was Aktuelles passiert. Wenn irgendwo eine Bombe hochgeht, [...] oder wenn Wahlen anstehen oder so. Ich meine, diese Grundregeln kennt doch jeder.“

Es könnten also sehr viele verschiedene Meldungen produziert werden. Der Journalist nennt jedoch einige „Grundregeln“, die er einhalten muss, damit seine auch „ins Blatt“ kommen. Zu diesem sogenannten Nachrichtenwert gehören z. B. Prominente wie der ehemalige US-Präsident G.W. Bush, Krisengebiete wie Afghanistan, Terroranschläge und Großereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaften. Es gilt als Regel, wenigstens einen dieser Faktoren in der Meldung zu haben. Ebenso ist ein Bezug zu Deutschland sehr von Vorteil: „Deutsches Ehepaar auf den Philippinen entführt!“ oder „Deutsche im Kongo vermisst!“. Hier wurden die Grundregeln der Interessantheit von Meldungen eingehalten. Doch die Regeln führen teilweise zu Verzerrungen. Ein Afrika-Korrespondent macht deutlich, was genau den Ausschlag dafür gibt, dass eine Nachricht gedruckt oder gesendet wird:

„Es zählt die Wahrnehmung Afrikas, nicht die Wirklichkeit. Das andere Afrika, das heitere, gelassene, erfinderische, ist uninteressant. Solche Nachrichten würden nicht ins Bild vom verlorenen, verzweifelten Kontinent passen, das sich so vorzüglich verkauft. Gefragt ist die oberflächliche, flinke Sensationsmeldung, nicht die nachdenkliche Analyse. Militärputsch in Nigeria, Hungersnot in Äthiopien, Krieg im Kongo. Schnell hin, sagt die Zentrale. Sie gehorcht dem Diktat des Medienmarktes. Der Korrespondent gehorcht der Zentrale.“.

 

Wer hat diese Regeln für Interessantheit erfunden? Und warum müssen sich alle Journalisten daran halten? Diese Regeln haben sich entwickelt und sind im Zusammenspiel aller Akteure der modernen Massenmedien entstanden. Aus Ländern der Erde zu berichten, die nicht viele Deutsche kennen, geschweige denn betreten haben, bringt eine hohe Beschränkung mit sich. Massenmedien sind grundsätzlich darauf angelegt, eine maximale Anzahl von Menschen zu erreichen. Den kleinsten gemeinsamen Nenner unter diesen Menschen zu finden, gerät bei der Auslandsberichterstattung aus „Entwicklungsländern“ oft zur schier unlösbaren Aufgabe, wenn man umfassend informieren will. Nur wenn sich ein Großteil des deutschen Publikums auch für die Thematik interessiert, bestenfalls staunt oder schockiert ist, kann man sagen, dass der Bericht „richtig reinhaut“. Diese emotionale Verbundenheit kann nur durch bestimmte Geschichten stimuliert werden. Am effektivsten wirken dabei Meldungen mit Deutschlandbezug oder Sensationen in Form von Katastrophen oder Kriegen. Politische Eliten oder Berühmtheiten rücken dabei stark in den Vordergrund. Aussagen normaler Menschen, die den Großteil der Gesellschaft bilden, oder von Vertretern der Zivilgesellschaft (z. B. von Künstlern, Wissenschaftlern, Studenten und Schülern) werden nur in einigen wenigen Ausnahmefällen dargestellt. Hier wird deutlich, dass gnadenlose Selektion mittels der gedachten „Nachrichtenschwelle“ letzten Endes immer wieder zu gedrucktem und gesendetem Einheitsbrei führt. Der Faktor „persönliche Nähe“ thront über allem. Wenn es eine Meldung nicht schafft, dem Publikum nahezugehen, wird sie automatisch nicht ins Programm genommen bzw. schleunigst aus diesem wieder entfernt. Drastisch formuliert heißt das:

„Jeder Busunfall in Deutschland verdrängt alles andere, was aus Singapur kommt.“

Und welche Akteure wissen, was uns nahe geht, und entscheiden, was rausfliegt?

Dafür ist die Redaktion in Deutschland zuständig. Die Verantwortung für das, was gedruckt oder gesendet wird, tragen die Redakteure der einzelnen Abteilungen und letzten Endes deren Vorgesetzter, der Chefredakteur des Hauses.